Ötzi: Alles anders als gedacht

Nicht dauerhaft im Eis

(07.11.2022) Mehr als 30 Jahre nach dem Fund muss die Geschichte von Ötzi umgeschrieben werden. Ursprünglich ging man davon aus, dass der 5.300 Jahre alte Körper gleich nach dem Tod im Herbst dauerhaft unter Eis begraben wurde. Dagegen meint nun ein Team von Archäologen und Gletscherforschern in einer im Fachjournal "The Holocene" veröffentlichten Arbeit, dass der Mann im Frühling oder Sommer gestorben ist und dann immer wieder durch Schmelzprozesse freigelegt wurde.

Nachdem am 19. September 1991 ein deutsches Ehepaar in 3.210 Metern Seehöhe im Bereich des Tisenjoch (Ötztaler Alpen) in einer Rinne eine Leiche entdeckt hatte, war relativ rasch klar, dass es sich um einen Sensationsfund handelt: eine 5.300 Jahre alte Eismumie, deren Erhaltung ganz speziellen Fundumständen zu verdanken sei.

Der österreichische Archäologe Konrad Spindler nahm damals aufgrund der Fundsituation an, dass Ötzi im Herbst mit einer im Kampf beschädigten Ausrüstung auf den Pass geflohen und dann in der schneefreien Rinne, in der seine Überreste gefunden wurden, erfroren ist. Der Körper und die dazugehörenden Funde seien danach schnell von Eis bedeckt worden und hätten - geschützt in der Rinne - wie in einer Zeitkapsel unter einem sich bewegenden Gletscher geruht, bis sie wieder freischmolzen.

Ein Team von Archäologen und Gletscherforschern aus Norwegen, der Schweiz und Österreich, meint nun in seiner Arbeit, dass die ursprüngliche Erklärung, wie Ötzi erhalten wurde, nicht dem aktuellen Stand der Forschung entspricht. Sie stützen sich dabei auf Erkenntnisse, die sie in den vergangenen Jahrzehnten bei der Untersuchung anderer gletscherarchäologischer Fundstellen gewonnen haben, sowie auf frühere paläobiologische Untersuchungen der Fundgruppe.

Den Forschern zufolge starb Ötzi im frühen Frühling oder Sommer. "Sein Leichnam ruhte wahrscheinlich im bzw. auf dem Schnee des Frühlings oder Frühsommers", schreiben die Wissenschafter in dem Fachartikel. Nach einiger Zeit seien Schnee und Eis geschmolzen und der Körper und ein Großteil seiner Habseligkeiten in jene darunter liegende Rinne gerutscht, wo man ihn schließlich entdeckt hat.

Die Verlagerung und Beschädigung des Leichnams und seiner Ausrüstung könne während einer einzigen starken Schmelze oder mehrerer kleinerer Schmelzvorgänge erfolgt sein. Der Körper und seine Ausrüstung seien jedenfalls ein- oder mehrmals in Wasser gelegen. "Schließlich haben Schnee und Eis die Rinne aufgefüllt und Ötzi wurde von einem Feld aus unbeweglichem 'kaltem Eis' bedeckt", schreiben die Wissenschafter.

Der "Mann aus dem Eis" wurde also nicht, wie bisher angenommen, sofort und dauerhaft unter Eis begraben. Das widerspricht auch einer angenommenen plötzlichen Abkühlung des Klimas um die Zeit von Ötzis Tod, die als Beleg für die Konservierung des "Eismanns" herangezogen wurde. Dafür gebe es keine Beweise, betonen die Wissenschafter.

Rund 1.500 Jahre lang nach seinem Tod seien Ötzi und seine Ausrüstung in heißen Sommern zeitweise frei gelegen. Dies führte zum Verfall der am stärksten exponierten Körperteile und zu weiteren Schäden an der Ausrüstung. Gleichzeitig gelangte neueres Material in die Rinne, das sich in einer "schmutzigen Eisschicht" am Boden ablagerte.

Das bedeutet aber nicht, dass der Körper ständig völlig im Freien war. "Er kann durchaus im Schnee gelegen sein, der durchlässig für Luft, Wasser, Pollen, etc. ist. Die schneefreie Periode dauert auf dieser Höhe normalerweise nur wenige Tage im Jahr. Die Massenbilanzen von Hintereis- und Kesselwandferner zeigen, dass der Wechsel zu längeren schneefreien Perioden auf Höhe der Fundstelle im Zuge des Klimawandels erst kürzlich erfolgt ist", erklärte Fischer gegenüber der APA.

Zudem zeige die Geschichte des Eises an der Fundstelle, dass es entgegen bisheriger Annahmen unwahrscheinlich ist, dass sich dort nach dem Tod von Ötzi ein Gletscher bewegt hat. "Wir haben die nun zur Verfügung stehenden sehr genauen Höhenmodelle des Untergrunds zusammen mit historischen Karten analysiert und wissen nun sehr viel mehr über die Struktur der Vereisung", so Fischer.

"Wir verstehen jetzt besser, wie hoch gelegene Eisfelder archäologische Stätten und Funde beeinflussen", betonte die Glaziologin. Weil entgegen der ursprünglichen Annahme keine plötzliche Abkühlung des Klimas für die Erhaltung von Eismumien erforderlich ist, schätzen die Wissenschafter die Chancen für weitere derartige Funde besser ein.

"Mittlerweile kennen wir viele Stellen mit altem Eis und können dadurch potenzielle Fundstellen besser überwachen", so Fischer. Dieses alte Eis wird in den nächsten zehn bis 20 Jahren schmelzen - "alles, was da verborgen ist, kommt heraus, man muss es nur rechtzeitig finden".

(APA/CD)

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